Tarifkollision: Verdrängung des Minderheitstarifvertrags tritt sofort ein

Ein BAG-Beschluss klärt: Bei Tarifkollision tritt die Verdrängung des Minderheitstarifvertrags unmittelbar kraft Gesetzes ein. Ein Gerichtsbeschluss ist dafür nicht nötig.

Die Konkurrenz zwischen Gewerkschaften führt in Betrieben oft zu einer Tarifkollision, bei der die Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften aufeinandertreffen. Das Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass in einem solchen Fall nur der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft Anwendung findet. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Beschluss vom 19. März 2025 (Az.: 4 ABR 35/23) klargestellt: Die Verdrängung des Minderheitstarifvertrags tritt unmittelbar kraft Gesetzes ein ($\S 4a$ Abs. 2 Satz 2 TVG) und bedarf keines gesonderten gerichtlichen Beschlusses.

Der Fall: Der Streit zwischen GDL und EVG

Im Zentrum des Verfahrens standen die Gewerkschaften GDL und EVG, die beide Tarifverträge mit der Deutschen Bahn abgeschlossen hatten. Ein Unternehmen der Bahn wandte nur noch die Tarifverträge der EVG an, weil es davon ausging, dass die EVG die Mehrheitsgewerkschaft sei. Die GDL klagte und beantragte die Feststellung, dass ihre Tarifverträge weiterhin anwendbar seien.

Das BAG wies den Antrag der GDL zurück.

Die BAG-Entscheidung: Verdrängung ex lege

Die Erfurter Richter entschieden, dass die Verdrängungswirkung nicht von einem langwierigen Gerichtsverfahren oder einem rechtskräftigen Beschluss abhängt.

  1. Unmittelbare Wirkung: Der Wortlaut von $\S 4a$ Abs. 2 Satz 2 TVG, wonach die Rechtsnormen des Mehrheitstarifvertrags anwendbar „sind“, deutet auf eine automatische Verdrängung hin (ex lege). Hätte der Gesetzgeber einen Gerichtsbeschluss gewollt, hätte er dies im Gesetz verankern müssen.
  2. Zeitliche Vorverlagerung: Die Anwendbarkeit des Tarifvertrags ist der gerichtlichen Entscheidung zeitlich vorgelagert. Der maßgebende Zeitpunkt für die Kollision ist der Abschluss des kollidierenden Tarifvertrags.
  3. Praktische Notwendigkeit: Würde die Kollisionsregel einen Gerichtsbeschluss voraussetzen, käme sie in der Praxis kaum zum Tragen, da die Verfahrensdauer die Laufzeit des Tarifvertrags oft überschreiten würde.

Konsequenzen für die Praxis

Die Entscheidung schafft Klarheit für Arbeitgeber, die von Tarifkonkurrenz betroffen sind.

  • Handeln ohne Gerichtsurteil: Arbeitgeber können und müssen bei einer Tarifkollision selbst prüfen, welche Gewerkschaft die Mehrheit im Betrieb stellt, und den Tarifvertrag der Minderheit sofort nicht mehr anwenden.
  • Individuelle Rechte bleiben: Trotz der automatischen Verdrängung können Arbeitnehmer in Individualverfahren klagen, wenn sie der Meinung sind, dass ein anderer Tarifvertrag anzuwenden ist. Allerdings ist der Nachweis der Mehrheitsverhältnisse im Individualprozess äußerst anspruchsvoll.
  • Beraterhinweis: Arbeitgeber sollten die Mehrheitsverhältnisse im Betrieb präzise dokumentieren, um im Streitfall ihre Entscheidung rechtfertigen zu können.

Quellenangabe:

BAG, Beschluss vom 19.03.2025, Az.: 4 ABR 35/23 (ArbRB 2025, 306).

$\S 4a$ Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz (TVG).

$\S 99$ Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG).