Reisezeit ist Arbeitszeit: EuGH stärkt Rechte von Arbeitnehmern ohne festen Arbeitsort

Ein Urteil des EuGH klärt: Fahrten vom Betriebsstützpunkt zum Einsatzort sind auch für Mitfahrer Arbeitszeit, da der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und nicht frei über seine Zeit verfügen kann.

Fahrten zu und von einem Arbeitsort, die nach Vorgaben und mit Fahrzeugen des Arbeitgebers durchgeführt werden, sind auch für mitfahrende Arbeitnehmer als Arbeitszeit zu bewerten. So hat es der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Vorabentscheidungsverfahren aus Spanien entschieden (Urt. v. 09.10.2025, Az. C 110/24). Diese Entscheidung, die auf den ersten Blick wie ein Paukenschlag wirkt, liegt in der ständigen Rechtsprechung des EuGH begründet und hat weitreichende Folgen für mobile Arbeitsmodelle.

I. EuGH-Maßstab: Verfügbarkeit und Ausübung der Tätigkeit

Der EuGH begründet seine Entscheidung mit $\text{Art. } 2 \text{ der Arbeitszeitrichtlinie (RiLi 2003/88/EG)}$, der Arbeitszeit als jede Zeitspanne definiert, während der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.

Im konkreten Fall – bei Mitarbeitern, die von einem zentralen Stützpunkt gemeinsam zum wechselnden Einsatzort fahren – sind diese Kriterien erfüllt:

  • Tätigkeiten ausüben: Da die Arbeitnehmer keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, gehören die Fahrten untrennbar zum Wesen ihrer Tätigkeit.
  • Dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen: Die Arbeitgeberin legte umfassend die Modalitäten fest (Transportmittel, Abfahrtsort, Zeit). Der Arbeitnehmer ist während dieser Fahrt nicht in der Lage, frei über seine Zeit zu verfügen und seinen eigenen Interessen nachzugehen.

II. Abkehr von der "Belastungstheorie" des BAG

Die Entscheidung markiert die Fortsetzung der Abkehr von der engen Belastungstheorie des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Das BAG hatte Arbeitszeit oft nur bei einer "überlastenden" Tätigkeit angenommen. Der EuGH hingegen sieht keine Zwischenformen: Es gibt nur Arbeitszeit oder Ruhezeit. Eine graduelle Differenzierung nach der Beanspruchung ist unzulässig.

  • Folge für Ruhezeit: Die elfstündige Ruhezeit nach dem ArbZG beginnt erst mit der tatsächlichen Ankunft am Stützpunkt und nicht bereits mit dem Ende der Arbeit am Einsatzort.

III. Vergütung: Arbeitszeit bedeutet nicht zwingend Vollarbeit

Die Feststellung, dass Fahrtzeiten Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind, hat nicht zwingend die volle Vergütung zur Folge.

  • Abweichende Vereinbarung zulässig: Es kann vertraglich vereinbart werden, dass Reisezeiten geringer vergütet werden, selbst wenn sie arbeitszeitrechtlich als Arbeitszeit gelten.
  • Mindestlohn-Grenze: Bei einer abweichenden Vergütung darf der Mindestlohn (ab 1.1.2026: 13,90 €) insgesamt nicht unterschritten werden.
  • Unwirksame Betriebsvereinbarung: Eine Regelung zur Vergütung von Reisezeiten in einer Betriebsvereinbarung ist in den meisten Fällen unwirksam, da dies typischerweise durch Tarifvertrag geregelt wird ($\S 77$ Abs. 3 BetrVG).

Quellenangabe:

Dr. Hans-Peter Löw, „Auch Zeit auf dem Rücksitz ist Arbeitszeit“, 24.11.2025.

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 09.10.2025, Az. C 110/24.

Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie).